Gemaltes Bild Frau im Kleid die Erdbeeren hält

El Ninjo (I)

Kurzgeschichte

Mein Sternzeichen ist Zwilling. Der Mond steht im Widder. Schützen und Wassermänner sind meine Kryptoniten. Einer dieser Kryptoniten scheint mir vorhin auf einem Familienfest in Regensburg begegnet zu sein. Er zieht mich an wie ein richtig gutes Paco Rabanne.

Witzig, charmant, freundlich. Sonst weiß ich eigentlich gar nicht so recht weiter, warum ich ihn gut finde. Es ist eben einfach so.

Niñjo trägt einen großen, braunschwarzen Ledergürtel mit in die enge Hose gestecktem Flanell-Hemd, adrett, stattlich - vielleicht war’s das.

Niñjo schenkt mir immer wieder die auf dem Tisch stehende Pfirsichbowle in mein Glas ein, sobald sie sich dem Ende des Bodens nähert - vielleicht war’s das.

Niñjo sieht mich an, als wäre ich etwas Übersinnliches, etwas, das nie könne aufhören zu strahlen - vielleicht war’s das.


„Tanzt du?“, frage ich ihn, doch muss mein Interrogativ aufgrund der Musiklautstärke wiederholen, „Kannst du tanzen?“ Er verneint.

Kurz überlege ich, ob ich ihm antworte: „Dann musst du's lernen, kommt bei den jungen Damen immer gut an“, aber entscheide mich dagegen. Er ist einundzwanzig Jahre alt. Kommt vom Lande. Wahrscheinlich noch nicht sehr erfahren in seiner Sexualität. Vielleicht ist es da eher von geringem Interesse, Samstagnacht tanzen zu können.

„Und wo ist dein Freund heute?“ fragt er mich, doch ich gestikuliere lachend,

„Du denkst, ich hab einen Freund?“

„Nicht?“

Ich verneine. Aber ich brauche mal wieder einen echten Kerl. Einen, der mir meine Steckdose repariert. Jemanden, mir das Loch an der Wand stopft. Einen richtigen Kerl, der praktisch ist und sportbegeistert und vom Land und so richtige drei Komma fünf fettige Milch trinkt. Ich sehe Niñjo an und ich merke, wie ich ihn will. Kurz darauf schreibe ich meine Telefonnummer auf ein abgerissenes Stück Tempo-Taschentuch und stecke sie ihm in seine rechte Hosentasche. Rosaroter Lippenstift ziert seine bluewashed Jeans.

Er unterhält sich mit seinem dreißig Jahre älterem Gegenüber um halb drei, während meine linke Hand mit den Glitzersilberringen an Zeige-, Mittel- und Ringfinger unter dem Tisch hin und wieder dezent heimlich hinauf sein rechtes Hosenbein wandert, keineswegs mit vollkommener Absicht, eher heraus aus dem Affekt des Alkohols und der Sympathie.

Als er mich verabschiedet, trauen sich meine Lippen nicht zu den seinen.


Dienstag.

Immer noch hier.

Niñjo erzählt mir von seiner Alm.

Kristallblaue Seen. Das Lavanttal.

Er sitzt schräg gegenüber meiner pechschwarzen Olympia-Schreibmaschine und betrachtet die auffällige Lücke zwischen den Buchstaben A und D. Ich beobachte seine Blicke von links, würde mich am liebsten zwischen seine Schenkel schleichen, um wiederum die Lücke zwischen seinen Beinen zu füllen, ganz plötzlich wird mir furchtbar heiß. Als Niñjo mich fragend ansieht, stottere ich: „Die kaufte ich schon so. Der ehemalige Besitzer erließ mir dafür zwanzig Euro Verkaufspreis und ich sagte ach, wer braucht denn schon Worte in denen der Buchstabe S vorkommt. Synonyme gibt es für jede Bezeichnung.

Niñjo schaut weiterhin skeptisch.

„Noch’n Bier?“

Er nickt. Der vom halboffenen Fensterbogen eingeladene Wind pustet mir mein blondes Deckhaar vor die Augen. Als ich mit zwei gefüllten Gläsern zurück komme, setze ich mich weit nach vorn gebeugt neben ihn.

„Dziękuję bardzo“, sagt Niñjo.

„Gott, sag's nochmal“, sage ich und oute mich als Verehrerin fremdsprachiger Basiskomponenten.


Irgendwann möcht ich auch wieder in eine ländliche Gegend. Mit Hühnern, die am Morgen von mir aufgeweichtes Brot aus einem Metalleimer bekommen. So, wie mein Vater sie stets fütterte, als ich noch klein war. Und Hollywoodschaukeln, auf denen ein ganzer sonniger Sonntagnachmittag verbracht werden kann, wenn man will. So, wie meine Großmutter sie öfter verbrachte, als ich noch ein Kind gewesen war. Vor allem aber mit einem Mann, der das Feuerholz noch selbst aus dem Wald holt, sich freut über das Mittagessen bestehend aus Kasseler mit selbsteingelegtem Sauerkraut am Kamin in der Stube. Mit weißem Schäferhund. Mit einem Hektar Acker für das pflanzen von Tomaten, Rhabarber, Kartoffeln. Na gut. Ein halber. Ein halber Hektar, reicht vielleicht.

Auf einem der zwei Fensterbretter meiner Wohnstube steht eine blau-weiß gepunktete Schüssel gefüllt mit Erdbeeren. Hatte sie gestern auf dem Markt nebenan gekauft und nicht vollständig verspeist. Niñjo sieht hinüber zum Fensterbogen. Er meint, bei ihm würde es mir sicher gut gefallen, hinter seinem Haus pflege er ein so und so großes Erdbeerbeet, es sei sein liebstes Obst, er könne sich nichts traumhafteres vorstellen, als Erdbeerkuchen mit Buttercreme. Während Niñjo mir das erzählt, versuche ich, Erdbeere für Erdbeere so aufreizend wie möglich zu essen. Ertaste mit meiner Zunge langsam die einzelnen Samen, sauge genüsslich den Saft heraus, schaue ihn mit einem vierzig prozentigem Schlafzimmerblick an.…oh, Herr im Himmel, wenn er wüsste, wie oft ich mir in den letzten sieben Tagen vorgestellt habe, auf welche Weise er auf mir liegt, wenn er das wüsste, würden wir jetzt sicherlich nicht über die optimale Kühltemperatur von Erdbeerkuchen sprechen.

Als er nach einer Stunde gehen will, bereue ich beinah, mein keckes Mundwerk die ganze Zeit über geschlossen gelassen zu haben. Ich will sie doch, seine Berührungen, eher unbeholfen grob als leidenschaftlich intensiv. Trotzdem sind sie präsent. Zu einhundert Prozent. In meinen nächtlichen Fantasien.

Ich sage: „Bleib doch noch nen bisschen. Nen ganz kleines bisschen. Ich will noch gar nicht, dass du gehst. Kannste dir aussuchen, ob wir Verstecken spielen oder Topfschlagen. Ich zähl jetzt bis zehn, dann sei in mich verliebt!“

Wir stehen stocksteif vor meiner Wohnungstür und sehen uns an. Meine Endorphine singen ein Lied: Hör auf, über die Folgen zu grübeln. Tu es einfach. Wenn du Niñjo jetzt nicht näher kommst, passiert es niemals! Doch ehe ich den Inhalt des Liedes sprechen lassen kann, beginnt Niñjo, mir meinen Plan vorwegzunehmen. Recht dominant nämlich, da ergreift er meine linke Hand, hält kurz inne, dann führt er sie in seine schwarze Baumwollhose und ich spüre den eindeutigen Widerstand, als meine Finger eben diesen umschließen. Nicht einmal fünf Sekunden später steckt meine Zunge tiefer in seinem Rachen als ein Flug im Acker, als die Wurzeln eines Löwenzahns in Straßenspalten, als eine Schraube in zweischaligem Backstein.

„Lass mich noch schnell eine neue CD starten“, sage ich.

„Keine Musik, brauchen wir nicht“, antwortet Niñjo.

Die determinative Klangfarbe seiner Stimme törnt mich an. Seine Küsse tun's auch. Und ja, sie sind eher unbeholfen grob als leidenschaftlich intensiv. Trotzdem fühle ich mich wie verzaubert. Kann nicht mehr denken, ich glaub, ich hab Fieber.


Niñjo ist, wie ich das erwartet hatte, sehr zügig im kombinieren seiner Gedankengänge und Handlungen. Fast schon muss er gebremst werden. Er will es umgehend, jetzt sofort. Seine Dominanz verunsichert mich und zieht mich gleichzeitig magisch an. Ich weise ihn darauf hin, dass guter Sex nicht daraus bestehe, möglichst schnell möglichst intensive Interaktionen herbeizuführen. Mein Gesicht dirigiert sich währenddessen in seinen nackten Schoß. Auf gar keinen Fall sollte er mitbekommen, dass ich nun doch gar nicht mehr so furchtlos und autoritär bin, wie ich vorgebe, zu sein. Auf das „hast du dir extra was Schickes angezogen?“ entgegne ich nur locker: „Gott, süßer Niñjo, so was trage ich immer unter meinen Kleidern“ und verabschiede mich von königsblau transparenter Lingerie aus Seidenspitze. Meine Lippen sagen Hallo zu seiner blassrosa Tulpe, da verabschiedet sich wiederum er von seinem erstem Orgasmus, wollte gerade noch äußern, hör auf, sonst komm ich – ok.

Damit hab ich gerechnet. Aber wir müssen keine zwei Minuten warten. Ich mag, dass er mich küsst, an Brüsten, Rücken und Hals, auch wenn ich seine Tulpe bereits in Berührung mit meinem Mund verschmelzen sah. Das überraschte mich, für einen Jungen seines Alters war so eine Selbstreflektion doch eher ungewöhnlich. Normalerweise ekeln sich nach meiner Erfahrung die meisten jungen Kerle vor ihren eigenen Körperflüssigkeiten. Auch wollen die meisten nur diese eine Standartstellung. Niñjo drehte mich um. Packte mich rücklängs. Lenkte meine Beine über seine Schultern. Auf mein stöhnendes Oh Gott fragte er stets:

„Was'n los?“

„Niñjo, ich kichere nur so sehr, weil das Bett lauter ist, als wir. Du tust das gut. Hör nicht auf. Bitte, hör nicht auf.“

Eigentlich bestand mein Reiz eines Treffens darin, Niñjo zu entjungfern, doch allen Anschein nach bedurfte es meinem Liebesdienst nicht.


Seitdem besuchte er mich nie mehr. Bis ich wieder ein waschechtes Mädl vom Lande werde, braucht es noch einige Jahre. Er lebt also sein Leben und ich lebe meines. Doch fortan werde ich immer, wenn ich den Geschmack von Erdbeeren auf der Zunge verspüre, an meinen Niñjo denken.